Unfinished Histories Vol. VIII

JAMES NOËL

Ausstellung

04. Jan - 28. Feb 2021

James Noël (*1978) ist Lyriker, Romancier und Performer. Er gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Haitis. Er hat mehr als zehn Gedichtbände in französischer und kreolischer Sprache veröffentlicht, darunter Poèmes à double tranchant (Farandole, 2005), Kabòn 47 (L’action sociale, 2009), Bon Nouvel (L’action sociale, 2009), Kana Sutra (Vents d’Ailleurs, 2011), Die größte der Raubkatzen. Ausgewählte Gedichte/Le plus grand des félins. Poèmes choisis (Litradukt, 2018) und Brexit – La Migration des murs (Au diable vauvert, 2020). Er ist Mitbegründer der Kunstzeitschrift IntranQu’îlllités und gab 2015 eine Anthologie zeitgenössischer haitianischer Lyrik heraus. Vor kurzem wurde er für seinen ersten Roman Was für ein Wunder (Belle merveille) mit dem Internationalen Literaturpreis 2020 (Berlin) ausgezeichnet.

Beständiges Fehlen von Verbindung, beständiges Fehlen von
sozialem Kitt der Arten und Orte
Massiv kritisch, der klinische Kasus der Welt am Fuß
der Mauer Auf dieser brutalen Seite der Realität
der Mauern geht im Grunde das Leben
zermalmt hervor

Am 23. Dezember 2020 wurde ein Flüchtlingslager in der Nähe von Bihac, Bosnien Herzegowina, evakuiert – es war weder mit Wasser oder Strom versorgt, noch war es winterfest gemacht worden. Dann ging es in Flammen auf. Die 1400 Menschen, die dort gelebt hatten, sollten in ehemaligen Kasernen untergebracht werden, aber die Einwohner*innen in der Umgebung weigerten sich, sie aufzunehmen. (1) Viele der Geflüchteten sind nun zurück im Lager, wo sie in neuen Zelten ausharren, mit spärlichen Heizkörpern, nur beschränkter Wasser- und Stromversorgung und kaum Essen. (2)

James Noël begann 2012 „Die Migration der Mauern“ zu schreiben, zwei Jahre nachdem ein Erdbeben in Haiti zahllose Mauern verwüstet hatte und seinen Bewohner*innen endlose neue in den Weg stellte. Über die Jahre haben sich die Verse seines Gedichts über „das Wuchern, die Vielfalt der Mauern“ vermehrt und auch die Grausamkeit und Erfindungsgabe von Grenzregimes und Migrationssystemen scheint blühend zu gedeihen. Die Krise in Bosnien ist nur das jüngste Ergebnis einer Politik, die aus den Grenzen Europas die tödlichsten der Welt gemacht hat. (3) Allein im Mittelmeer kamen 2018 mehr als 2 000 Menschen ums Leben, 1 800 darunter im zentralen Mittelmeer, wo die Todesrate im April 2019 10 Prozent erreichte (4) – die Dunkelziffer der Toten aufgrund illegaler Pushbacks werden wir womöglich nie erfahren. Gleichzeitig wird in vielen europäischen Ländern Solidarität weiterhin kriminalisiert und eine humanitäre Einstellung an den Tag gelegt, die zwar symbolische Soforthilfe zur Verfügung stellt, allerdings nicht bereit ist, die systemischen Ungerechtigkeiten (z.B. in Sachen globaler Klimagerechtigkeit) anzugehen. Einen solchen Humanitarismus lehnt Noël kategorisch ab: „Ich erkläre ihn zum Verbrechen gegen die Menschheit!“ (5)

Und dann kam 2020. Von Angst und menschenleeren Straßen bestärkt, florierte in der Pandemie das Geschäft der Mauer-Architekten. Aus dem ganzen Land brachte Trump hunderte Bauarbeiter*innen nach Arizona und setzte somit Bewohner*innen und Angestellte einem erhöhten Infektionsrisiko aus – ganz zu schweigen von den harten Arbeitsbedingungen in der Wüste, die das amerikanische Migrationssystem schon in den 1990er Jahren praktisch zum Friedhof umfunktioniert hatte. 2020 war auch das Jahr, in dem die griechische Regierung mit dem Gedanken spielte, einen flottierenden Zaun um Lesbos zu errichten, (6) und Großbritannien erwog, Asylsuchende, ähnlich wie in Australien, vor der Küste unterzubringen und ihre Asylverfahren dort durchzuführen. (7)

Kürzlich beschrieb James Noël in einem Artikel das Jahr 2020 als ein „hitziges Jahr, ein anschwellender Fluss […] Sicherlich wird es auch in das nächste Jahr überlaufen, seine Strömungen in den Rachen der Zukunft schütten.“ (8) Wie und wann es endlich zu einem Ende kommt, bleibt unklar. Bis dahin wagt es Noël, von einer Zukunft zu träumen, die sich nicht auf einer Impfung ausruht, sondern die auch das unbedingte Ende von abschottendem Grenzgebaren bedeutet. Solange dieses aber fortbesteht, helfen uns seine Gedichte, die sich anhäufenden Architekturen zu erkennen, die uns einschließen, voneinander trennen und beobachten. Hoffnungsvoll beschreibt er ihr Ableben: „Die Zivilisation der Mauern ist am Ende.“

 

Zu dem Text von Noël geht es hier.

artiCHOKE e.V. ist ein Kollektiv von Lyriker*innen und Übersetzer*innen, das sich um 2015 zusammengeschlossen hat, um in Berlin eine Lese- und Publikationsreihe zu organisieren. Von Anfang an widmete es radikaler und militanter Lyrik besondere Aufmerksamkeit und zielte darauf ab, durch die Praxis des Übersetzens internationale Kreuzbestäubungen zu schaffen.

Unfinished Histories Vol. VII-IX:
»Heinrich, ich steh’ hier mit der Kettensäge«
Sean Bonney, James Noël, Lisa Jeschke and Laurel Uziell
Organisiert von Andrea Garcés und Lotta Thießen für artiCHOKE

(1) https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-801789.html
(2) https://taz.de/Menschen-im-bosnischen-Fluechtlingslager-Lipa/!5741125/
(3) According to a report published in 2017. https://www.iom.int/news/new-study-concludes-europes-mediterranean-border-remains-worlds-deadliest
(4) International Organization for Migration, World Migration Report 2020, p. 95. Available at https://www.un.org/sites/un2.un.org/files/wmr_2020.pdf
(5) https://www.wordswithoutborders.org/article/in-all-magnitude1
(6) https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-06/griechisch-tuerkische-grenze-barrieren-lesbos-migration
(7) https://www.ft.com/content/9baaf989-f64d-417d-90c5-b0ea8f78bf0c
(8) https://www.rtbf.be/lapremiere/emissions/detail_dans-quel-monde-on-vit/accueil/article_james-noel-apres-la-fracture-des-gestes-barrieres-pourra-t-on-miser-sur-un-pansement-de-tendresse-sans-frontiere?id=10656851&programId=8524&utm_source=lapremiere&utm_campaign=social_share&utm_medium=fb_share